Vorwort zur zweiten Ausgabe
Willkommen!
Oktober 2022 bis Oktober 2023
Im Oktober 2022 wurde die erste Ausgabe dieses Lehrbuchs veröffentlicht. Innerhalb weniger Tage erschien ChatGPT und wir erlebten 12 Monate des KI-Wahnsinns: Jede Woche wurden neue Produkte auf den Markt gebracht, Verbesserungen an Sprachmodellen und deren Anwendungen angekündigt. Noch wichtiger war, dass Bildung plötzlich zum Maßstab für generative KI zu werden schien. Lehrkräfte und Institutionen reagierten schnell: Sie erkannten, dass ein neues Tool zur Verfügung stand und nahmen es in ihre Toolbox auf, oder sie verboten es, weil sie es als bedrohlich empfanden. Es gab Diskussionen in der Presse, aber auch innerhalb der internationalen Organisationen: Petitionen und offene Briefe wurden unterzeichnet. Die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt wurden untersucht, und einige Unternehmen haben bereits damit begonnen, ihr Personal durch KI zu ersetzen.
Für die Autorinnen und Autoren dieses Buches ergaben sich daraus eine Schlüsselfrage, eine Herausforderung und eine Chance. Bei der Frage handelt es sich um eine, die jeder Autor eines technologiebezogenen Buchs fürchtet: Ist das Buch überflüssig geworden? Es könnte die kürzeste Lebensdauer eines Buches überhaupt sein, vielleicht eine Frage von nur wenigen Tagen … Die Herausforderung bestand darin, die Neuerungen, die sich durch den ChatGPT-Tsunami ergeben hatten, in einer zweiten Ausgabe zu berücksichtigen.
Und bei der Chance wiederum handelte es sich darum, das Buch im optimalen Moment zu teilen, nämlich dann, wann es hoffentlich am meisten benötigt würde.
Die Frage ist: Bedeutet die Wichtigkeit der generativen KIs, dass der Rest der KIs überflüssig geworden ist?
Diese Frage macht Sinn: ChatGPT wurde von vielen deshalb gerne angenommen, weil es so einfach zu nutzen ist. Einige Einige Expertinnen und Experten für generative KI in 2023 wussten 2022 noch sehr wenig über KI! Es ist daher verlockend zu glauben, dass generative KI auf dünnem Boden gebaut ist und man sie verstehen kann – wenn das das Ziel ist – indem man einfach die Veröffentlichungen der letzten 12 Monaten liest. Besteht vor diesem Hintergrund immer noch die Notwendigkeit, maschinelles Lernen und die verschiedenen von KI-Technikern in den letzten 70 Jahren entwickelten Tools zu verstehen?
Wir glauben, dass die Antwort „Ja“ lautet. Auch wenn es sich um einen spektakulären Fortschritt handelt, baut die generative KI auf Technologien und Ideen auf, die bereits seit Jahrzehnten existieren. Das Verstehen von Daten, Vorurteilen, selbstständigem Lernen, Personalisierung und Ethik ist immer noch der Schlüssel zu allem, was Lehrkräfte wissen sollten, bevor sie KI im Klassenraum einsetzen.
Die Herausforderung
Die Herausforderung besteht darin, über eine sich schnell verändernde Technologie zu schreiben. Das erfüllt die Bedürfnisse von Lehrenden, die – verständlicherweise – von nicht vergänglichem Wissen ausgehen und ihre Stunden auf Konzepten und Technologien aufbauen möchten, die der Zeit standhalten. Ein Beispiel dafür ist der Begriff der „Halluzination”, der sich in den letzten 12 Monaten stark verändert hat und der entscheidend dafür sein wird, wie Lehrkräfte generative KI einsetzen werden.
Die Chance
Die Chance ergibt sich aus der Dringlichkeit, mit der sich alle Beteiligten heute mit den Fragen der künstlichen Intelligenz und der Bildung auseinandersetzen. Als im Jahr 2020 das Projekt AI4T gestartet wurde, bestand die Schwierigkeit darin, genügend Lehrkräfte zu rekrutieren, die sich mit KI beschäftigten, damit die experimentellen Ergebnisse des Projekts auch gültig wären. Nun, im Jahr 2023 ist es in allen Ländern zu einer Frage von höchster Priorität geworden.
Was ist neu an dieser zweiten Ausgabe?
Wir mussten selbstverständlich die Einführung von ChatGPT (und später von anderen generativen KIs) berücksichtigen. Ein ganzer Abschnitt (7) widmet sich nun dem Verständnis dieses Phänomens und enthält Vorschläge, wie Lehrende diese Technologien nutzen können.
Im Hinblick auf die technischen Aspekte haben wir uns dafür entschieden, den Schwerpunkt eher auf Bilder als auf Text zu legen. Aus diesem Grund findet man viele neue Illustrationen in dieser Ausgabe. Wir haben darüber hinaus 15 kurze Videos hinzugefügt, die zum besseren Verständnis von wichtigen Konzepten beitragen sollen.
Die Herausforderung der Offenheit und der Mehrsprachigkeit
Dies ist ein offenes Lehrbuch. Das bedeutet, dass eine Creative-Commons-Lizenz verwendet wurde und alle Bilder, Videos und zusätzliches Material geprüft wurden, damit sie offen geteilt werden können. Das bedeutet, dass jeder das Material, oder einen Teil des Materials verwenden und auf Wunsch wiederverwenden kann. Und jeder kann Änderungen vornehmen. Es stehen verschiedene Export-Formate zur Verfügung und die Autorinnen und Autoren können das Buch auf jede Art und Weise teilen, die sicherstellt, dass dieses Lehrbuch nachhaltig ist: Es kann in Form von zukünftigen Versionen und neuen Projekten weiterleben.
Wie es üblich ist, besteht die einzige Verpflichtung darin, die Verfasser des Buches oder die Autorinnen und Autoren der einzelnen Kapitel, sofern relevant, zu zitieren.
Übersetzungen sind möglich, und wir haben die englische Originalfassung bereits ins Französische, Slowenische, Italienische und Deutsche übersetzt. Außerdem sind neue Übersetzungsprojekte des Lehrbuchs in weitere Sprachen angedacht. Wir glauben, dass KI beim Übersetzungsvorgang helfen kann – hier ist jedoch eine menschliche Korrektur notwendig.
Bitte kontaktieren Sie uns, um eine Partnerschaft aufzubauen, wenn Sie das Buch in Ihre Sprache übersetzt haben möchten!
Was haben wir vor einem Jahr gesagt?
Beginnen wir damit, was Sie schon wissen: KI ist überall und der Bildungsbereich stellt keine Ausnahme davon dar. Für einige Menschen sieht die Zukunft rosig aus, denn die zukünftigen Technologien machen Bildung für alle möglich und könnten sogar unterstützen, wenn nicht ausreichend Lehrkräfte zur Verfügung stehen. So können die Lehrenden mehr Zeit für die anspruchsvollen Aufgaben aufwenden, während die Maschine alle „langweiligen” Aufgaben, wie die Benotung, die Organisation des Klassenzimmers, die individuelle Betreuung der Schüler oder das Wiederholen in den Unterrichtsstunden, übernimmt.
Für andere stellen diese KI-Algorithmen eine große Gefahr dar. Die Milliarden von Dollar, die die Industrie zu investieren bereit ist, beweisen, dass der Bildungssektor inzwischen als ein Markt angesehen wird – was er nicht ist.
Irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden sehr unterschiedlichen Positionen befinden sich Forscherinnen und Forscher, pädagogische Fachkräfte und politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, die sich bewusst sind, dass künstliche Intelligenz nicht mehr aufzuhalten ist und in den Klassenzimmern Einzug halten wird, wenn sie es nicht schon getan hat. Und keine Ministerin und kein Minister – geschweige denn eine Lehrkraft – wird dies verhindern können. Wie können Lehrende also angesichts dieser Tatsache die Bestie KI zähmen und die künstliche Intelligenz zum Guten nutzen? Wie können Lehrerinnen und Lehrer KI für den Unterricht nutzen und nicht umgekehrt?
Das vorliegende Lehrbuch soll Lehrkräfte in all diesen Fragen unterstützen. Es wurde im Rahmen des Erasmus+ Projekts AI4T (Artificial Intelligence for and by Teachers) entwickelt. Teams aus Irland, Luxemburg, Italien, Slowenien und Frankreich haben zusammengearbeitet, um Lernressourcen für Lehrkräfte zu entwickeln, mit denen sie mehr über KI und insbesondere über KI in der Bildung erfahren können. Das Lehrmaterial und eine Präsentation des Projekts und seiner Ergebnisse finden Sie auf der Website de Projekts (https:/ www.ai4t.eu/).
Die Ausbildung von Lehrkräften ist eine sehr wichtige Aufgabe für alle beteiligten Ministerien. Im Falle der künstlichen Intelligenz umfasst sie mindestens die folgenden Aspekte:
- Den Lehrerinnen und Lehrern bewusst machen, warum eine solche Fortbildung sinnvoll ist: Diese Einsicht kann nicht erzwungen werden, sondern muss im Konsens erfolgen.
- Einführung in die künstliche Intelligenz: Nach unserer Erfahrung in vielen Konferenzen und Workshops gibt es immer einige Teilnehmende, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, die darüber gelesen und sich damit auseinandergesetzt haben. Aber die große Mehrheit hat dies noch nicht getan.
- Erklären, wie KI im Klassenzimmer funktioniert: Wie sind ihre Mechanismen? Welches sind die wichtigsten Ideen?
- Einsatz von KI für pädagogische Aufgaben
- Analyse dessen, was in diesem Bereich geschieht und ein aktiver Gestalter bei diesen zukünftigen Veränderungen zu sein.
Wir hoffen, dass das vorliegende Lehrbuch Ihnen bei den meisten dieser Fragen weiterhelfen kann: Wir analysieren die aktuelle Situation und verknüpfen KI mit den Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer. Wir hoffen so, sie zu ermutigen, sich weiterhin für diese Fragen zu interessieren: Es wird zweifellos neue Herausforderungen geben, es werden Fehler gemacht werden, und es kann zu heftigen Widerständen und Kontroversen kommen. In einigen Abschnitten mit der Überschrift „KI-Sprache” versuchen wir zu erklären, warum die Algorithmen funktionieren und wie sie funktionieren. Unser Ziel ist es, Lehrkräften zu helfen, informierte Bürgerinnen und Bürger zu sein, die sich voll und ganz an den Debatten und Diskussionen über Bildung und künstliche Intelligenz beteiligen können. Einige der Gründe für die Erstellung dieses Materials werden in dem von AI4T erstellten Video dargestellt.
Wir sind von folgenden Annahmen überzeugt:
- Ein gewisses Maß an Kenntnissen über künstliche Intelligenz ist notwendig. Lassen Sie uns das damit erklären, dass oft argumentiert wird, dass man auch nicht wissen muss, wie Motoren funktionieren, um ein Auto fahren zu können. Das ist nicht ganz richtig: Die meisten von uns wissen nicht, wie Motoren funktionieren, aber sie akzeptieren, dass Wissenschaft und Technik im Spiel sind. Wir akzeptieren dies, weil wir in der Schule die Grundlagen der Physik und Technik gelernt haben. Genauso wenig würden wir uns mit einem Buch zufriedengeben, das uns empfiehlt, nicht zu rauchen, und das sich auf statistische Argumente hinsichtlich der Zahl der durch Rauchen verursachten verfrühten Todesfälle stützt. Wir sind auch hier in der Lage zu verstehen, warum Rauchen schädlich ist, weil uns irgendwann einmal eine Lehrerin oder ein Lehrer erklärte, wie die Atmung funktioniert, was Lungen sind usw. Da die künstliche Intelligenz heute einen enormen Einfluss auf die Gesellschaft hat, glauben wir, dass dafür dasselbe gilt: Es reicht nicht aus, sich lediglich über die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz zu informieren. Die Lehrkräfte müssen verstehen, wie sie funktioniert. Und ebenso wie es nicht darum geht, aus jedem Menschen einen Biologen oder Physiker zu machen, geht es hier “nur” darum, dass wir die Grundzüge und Ideen verstehen.
- Lehrerinnen und Lehrer sind außerordentlich lernfähig. Sie sind sehr kritisch, wenn etwas nicht richtig erklärt wird und engagieren sich mehr. Sie wollen verstehen. Dieses Handbuch richtet sich an Menschen, die bereit sind, diese zusätzlichen Anstrengungen auf sich zu nehmen, und die erst dann zufrieden sind, wenn sie etwas verstanden haben.
- Weiterhin muss KI in einer sicheren Umgebung eingesetzt werden: Die Computer oder Geräte werden mit dem Internet verbunden sein, die Apps laufen in der Cloud. Das stellt ein großes Sicherheitsproblem dar. Die Lehrkraft sollte sicherstellen, dass die Umgebung für sie selbst und die Lernenden sicher ist. Darüber hinaus ist anzumerken, dass IT-Sicherheit ein sehr komplexes Thema ist und dass eine Lehrkraft nicht in der Lage ist, die Spezifikationen zu überprüfen, um festzustellen, ob eine Software sicher ist. Dies muss von einer vertrauenswürdigen Quelle übernommen werden.
- KI kann helfen, vorausgesetzt, sie wird in einer genau definierten und kontrollierten Lernumgebung für eine Aufgabe eingesetzt, die die Lehrkraft als wichtig definiert hat. Aus offensichtlichen wirtschaftlichen Gründen werden Lehrerinnen und Lehrern immer mehr mit Produkten konfrontiert, die ihnen bei der Lösung von Aufgaben helfen, mit denen sie sich manchmal noch gar nicht beschäftigt haben. Aber da es “cool” ist und sich gut verkauft, könnten es einige Lehrende als wichtig ansehen. Eine gute Lehrkraft sollte sich dessen bewusst sein. Wir hoffen, in diesem Lehrbuch genügend Anhaltspunkte vorzustellen, damit Lehrerinnen und Lehrer solche Produkte oder Situationen erkennen können.
- Bei der Vorbereitung dieser Kursunterlagen hatten wir ein ernstes Problem: Die Idee bestand darin, KI-Software zu verwenden, die wir den Lehrkräften empfehlen können, damit sie sie schnell im Unterricht einsetzen können. Leider ist das nicht der Fall: Viele Software-Produkte sind noch nicht ausgereift. Es gibt zudem viele ethische Bedenken, und in den meisten Fällen haben die verschiedenen Ministerien und Regierungen keine Listen mit genehmigter Software herausgegeben. Wir haben daher einen anderen Ansatz gewählt: Wir werden die Software im Lehrbuch erwähnen. Wir haben sie ausgewählt, weil wir der Meinung sind, dass sie einen bestimmten Aspekt von KI in der Bildung erklärt. Aber wir empfehlen keine bestimmte Software. Es ist davon auszugehen, dass internationale Organisationen wie Unesco, Unicef oder der Europarat in naher Zukunft konkrete Listen vorlegen werden.
Bevor wir Sie mit der Lektüre beginnen lassen, möchten wir uns bei den vielen Menschen bedanken, die uns bei der Erstellung dieses Handbuchs geholfen haben.
In erster Linie haben wir von der Lektüre der Arbeiten von Wayne Holmes profitiert und viele Stunden der Diskussion mit ihm genossen.
Diskussionen fanden auch innerhalb des AI4T-Konsortiums statt, in dem wir Workshops organisierten, um die Themen herauszuarbeiten.
Die Lehrerinnen und Lehrer selbst waren eine wichtige Informationsquelle: In Seminaren und Webinaren konnten wir unsere Ideen mit ihnen teilen und verstehen, welche verwirrend oder schlichtweg falsch waren.
Viele gaben wertvolle Stellungnahmen ab, lasen Korrektur, schlugen Links und Texte vor und einige haben dieses Werk mit Kapiteln ergänzt:
- Manuel Gentile half uns bei einer Reihe von Kapiteln und bewies großes Geschick darin, auch die obskursten Aspekte der KI zugänglich zu machen;
- Fabrizio Falchi und Giuseppe Città waren großartige Mitarbeiter, die uns geholfen haben, eine Vielzahl von KI-Fragestellungen zu verstehen;
- Azim Roussanaly, Anne Boyer und Jiajun Pan waren so freundlich, das Kapitel über Learning Analytics zu schreiben;
- Wayne Holmes schrieb ein Kapitel über die Handlungsfähigkeit – ein sehr wichtiges Thema, wenn es um die ethischen Implikationen von KI geht;
- Michael Halissy und John Hurley untersuchten Fragestellungen in Bezug auf Hausaufgaben und Bewertung angesichts der Verbreitung von generativer KI;
- Bastien Masse ist ein Experte für das Beherrschen der Eingabe (Prompt); er hat seine Kenntnisse hier zur Verfügung gestellt;
- Blaž Zupan stellte die Software Orange vor, die sein Team entwickelt hat, um das maschinelle Lernen zu nutzen.
Wir sind auch denjenigen zu großem Dank verpflichtet, die dieses Lehrbuch ins Französische, Italienische, Deutsche und Slowenische übersetzt haben. Unser besonderer Dank gilt Solenn, Manuel, Daniela und Helena.
La Plaine sur Mer, 26.11.2023
Colin de la Higuera